Das Hin und Her in der Trauer im Klimakollaps
Es wird immer bewusster, wie viel wir mit zunehmender Klima- und Biodiversitätskatastrophe verlieren werden. Die emotionale Belastung im Klimakollaps ist daher enorm. Aber dennoch: Phasen von tiefer Trauer wechseln sich mit Tatendrang aber auch intensiven Genussmomenten ab. Denn zwischen Trauer und Tatkraft liegt kein Widerspruch, sondern ein Rhythmus. Das Dual‑Prozess‑Modell, 1999 von Margaret Stroebe und Henk Schut entwickelt, ist daher ein eventuell besseres Modell zur Erklärung von Trauer, als das bereits vorgestellte 5-Phasen-Modell nach Kübler-Ross,
Im Kern geht es im Kollaps um Verlust – Verlust von vertrauten Jahreszeiten, Sicherheiten, dem Rechtsstaat, von intakten Natur- und Lebensräumen, Selbstverständlichkeiten, Fortschrittsglauben und positiven Zukunftsvorstellungen. Das Dual‑Prozess‑Modell, 1999 von Margaret Stroebe und Henk Schut entwickelt, beschreibt, wie Menschen damit umgehen: als Pendelbewegung zwischen Verlustorientierung und Wiederherstellungsorientierung. Es ist normal, an einem Tag in tiefer Trauer zu sein und am nächsten den Alltag zu erleben oder sogar zu genießen. Dieses Hin‑und‑Her ist keine Schwäche, sondern eine gesunde Antwort auf anhaltende Krisen – es dosiert Schmerz, bewahrt Handlungsfähigkeit und ermöglicht, inmitten der Zerstörung Beziehungen, Sinn und Resilienz zu kultivieren.
Verlustorientierung: Die Konfrontation mit der Endlichkeit
In der Phase der Verlustorientierung liegt der Fokus auf dem Schmerz. Menschen spüren Trauer, Angst, Wut oder Schuld, wenn sie sich mit dem Ausmaß der ökologischen Zerstörung auseinandersetzen. Es ist jene Zeit, in der wir uns voll und ganz der Realität des Kollapses stellen. Im Kontext der Klimakrise zeigt sich das beispielsweise in Phasen intensiver Klimatraurigkeit, in der Auseinandersetzung mit Kipppunkten oder in der lähmenden Erkenntnis, dass viele Schäden unumkehrbar sind. Wir fühlen den Schmerz, wenn wir an die Zukunft unserer Kinder denken. Wir fühlen die Sehnsucht, wenn wir an frühere Landschaften oder auch Unbekümmertheit denken. Diese emotionale Tiefe ist notwendig – sie benennt das, was verloren geht, und gibt Raum für Abschied.
Doch wenn der Blick ausschließlich auf das Bedrohliche gerichtet bleibt, führt das schnell zu Erschöpfung oder Zynismus. Menschen, die permanent in der Verlustorientierung verharren, erleben oft Burnout oder Rückzug, weil die Welle der Verzweiflung keine Atempausen zulässt.
Wiederherstellungsorientierung: Lebenskraft und Handlungsspielräume
Das Leben geht trotz Schmerz weiter. Die Wiederherstellungsorientierung hingegen richtet sich auf das, was bleibt und entstehen kann. Sie sucht nach Wegen, mit der neuen Realität umzugehen – sei es durch praktische Selbstversorgung, gemeinschaftliches Handeln, politische Aktivität oder das Gestalten von Orten der Regeneration. Ein Beispiel sind lokale Initiativen, die Gemeinschaftsgärten aufbauen oder Nachbarschaften resilienter machen. Sie ersetzen verlorene Sicherheiten durch Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit.

Wiederherstellung heißt in diesem Sinne nicht Verdrängung, sondern kreatives Navigieren inmitten des Unvermeidlichen. Es ist der Versuch, inmitten des Wandels lebenswert zu bleiben – seelisch, sozial und ökologisch.
Die Notwendigkeit beider Bewegungen
Das Dual-Prozess-Modell betont, dass gesundes Trauern nicht darin besteht, zwischen Verlust und Wiederherstellung zu wählen. Es geht um Bewegung zwischen beiden Polen: mal das Zulassen von Schmerz und Klage, mal das Hinwenden zu Handlung und Aufbau. Dieses Pendeln spiegelt sich auch in der ökologischen Resilienz wider: Eine Gemeinschaft kann nicht nur retten oder nur trauern – sie muss beides tun. In der einen Bewegung wird die Zerstörung anerkannt, in der anderen die Lebenskraft erneuert.
Viele Aktivistinnen und Klimaengagierte erleben diese Wechsel emotional unmittelbar: Tage der Verzweiflung über politische Untätigkeit wechseln mit Momenten intensiver Kreativität, Kooperation und Lebensfreude. Man pendelt zwischen Ausnahmezustand und versuchter Normalität. Diese Dynamik ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck ganzheitlicher Anpassung.
Ein neues Verhältnis zur Welt
Im Angesicht des Klimakollapses wird Trauer so zu einer Form der Verbundenheit. Wer verliert, lernt, was ihm wirklich wichtig ist. Und wer Leben wiederherstellt, gestaltet auch in schwierigen Zeiten eine Zukunft. Wichtig ist, beiden Polen genug Zeit und Energie einzuräumen und eine gute Balance zu finden. Schwankungen und Rückschritte sind dabei gesund „normal“ und kein Zeichen von Verdrängung. vor allem für eine Langzeit-Anpassung in kollektiven Krisen ist damit das Dual-Prozess-Modell ein tauglicheres Modell als die 5 Trauerphasen nach Kübler-Ross.
Unterschied zu den 5 Trauerphasen nach Kübler-Ross
- Kübler‑Ross: Fünf benannte Reaktionsmuster (Leugnung, Zorn, Verhandeln, Depression, Akzeptanz) wurden ursprünglich aus der Arbeit mit Sterbenden abgeleitet und später auf Trauernde bzw. andere Verluste übertragen; sie werden oft als (scheinbar) nacheinander ablaufende Phasen verstanden, auch wenn Kübler‑Ross später die Strenge der Linearität relativierte.
- Dual‑Prozess‑Modell: Trauer verläuft als fortwährendes Hin‑und‑Her zwischen Verlustorientierung (Konfrontation mit Schmerz, Sehnsucht, Sinnkrise) und Wiederherstellungsorientierung (Alltagsaufgaben, Rollen/Identitätsanpassung, neue Aktivitäten), ohne vorgegebene Reihenfolge oder Endpunkt.
Weitere interessante Beiträge auf unserer Seite zu Trauer:
- Die fünf Phasen der Trauer
- Trauern nach Circlewise & Sobonfu Somé
- Hospicing Modernity
- Deep Adaptation
- Verdrängung im Klimakollaps
- Michael Dowd & Post-Doom-Mentalität
- Krisenstimmen: Bildschirmtrauer
Quellen:
- Stroebe & Schut (1999): „The Dual Process Model of Coping with Bereavement: Rationale and Description“
- Stroebe & Schut (2010): „The Dual Process Model of Coping with Bereavement: A Decade On“
- https://wendyvanmieghem.com/wp-content/uploads/2012/08/dual-process-model-by-M.-Stroebe-.pdf
- http://www.trauerforschung.de/index.php/forschungsbereiche/bewaeltigung/42-darstellung-der-grundprinzipien-des-dualen-prozessmodells-der-trauerbewaeltigung
- https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/21058610/
- https://oeas.at/fileadmin/root_oeas/Dokumente/systeme/systeme_2022/Systeme_2-2022_MuI__ller_Kiepke-Ziemes_MuI__nch.pdf
- https://www.gute-trauer.de/trauer/wie-funktioniert-verlustverarbeitung/das-duale-prozess-modell-der-bewaeltigung-von-verlusterfahrungen-dpm
- https://trauerlicht.at/das-duale-prozessmodell/
- Buch: Andreas Reckwitz: Verlust – Ein Grundproblem der Moderne
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