Bildschirmtrauer


Krisenstimmen: In dieser Rubrik ist Platz für eine andere Art der Annäherung an die Klimakrise, die Klimakatastrophe, den Klimakollaps. Keine wissenschaftlichen Artikel, keine Energiespartipps – hier wird der Frage nachgegangen, wie es uns eigentlich mit der Krisenstimmung geht. Und das in Form von Texten, die einmal eher erzählerisch, einmal eher nachdenklich oder ganz poetisch daherkommen können. Immer auf der Suche nach dem, was zwischen den Zeilen steht.

Manchmal, wenn wieder ein Artikel nach dem anderen schwarz auf weiß über den Bildschirm von Julians Laptop gelaufen ist, er sich durchgekämpft, durchgescrollt hat und doch nicht aufhören konnte, manchmal ertappt er sich dabei, wie er seine Google-Suchen manipuliert. Wie er nach Berichten sucht, die widerlegen, was er gerade gelesen hat, die den Fortschritt des Auftauens des sibirischen Permafrosts weniger dramatisch einschätzen oder die Größe der Fläche, die der Menschheit zum Leben bleiben wird, etwas optimistischer darstellen. Nach so einem Artikel kann er zu lesen aufhören, sagt er sich.



Heute muss er den Laptop zuklappen, mitten im Lesen, weil es nicht mehr anders geht, weil er spürt, wie seine Beine zappeliger, seine Stirn ungeduldiger werden, wie er nur mehr um des Lesens willen liest, um des Gelesenhabens willen, wie er schon längst nichts mehr davon versteht. Er dreht sich in seinem Bürosessel weg vom Schreibtisch, stützt die Ellbogen auf die Knie, als wäre er körperlich erschöpft. Seit wann, denkt er, weiß ich eigentlich vom Klimawandel. Er versucht sich zu erinnern, an den Augenblick, in dem er erfahren hat, dass es den Klimawandel gibt, aber da ist nichts, da kommt nichts, diesen Augenblick gibt es nicht, hat es vielleicht nie gegeben. Es muss eine schleichende Wahrheit gewesen sein, keine plötzliche Eröffnung, wie sie Eltern manchmal unterläuft, weil sie vergessen haben, was ihre Kinder noch nicht wissen können. So wie damals, als Julian erfahren hat, dass seine Oma gar nicht seine Großmutter ist, sondern nur die zweite Frau des Großvaters, daran kann er sich noch genau erinnern, an die Verwunderung seines Vaters, dass Julian das noch nicht gewusst hat, dass Julian nie hinterfragt hat, ob die Oma die Mutter des Vaters ist, sein kann.
Nein, so einen Moment gibt es nicht in Bezug auf den Klimawandel. Wohl aber Erinnerungen an ein Davor. An unschuldige Schneeflocken. An Träume von Flugzeugen. An das langersehnte Moped und das Motorrad, aus dem nie etwas wurde. An Bilder von Korallenriffen und Pläne, sie einmal selbst zu ertauchen.

Manchmal wünscht sich Julian, er würde nicht wissen, dass es den Klimawandel gibt. Er schämt sich dann noch im selben Atemzug dafür, bestraft sich mit einem kurzen scharfen Zwicken in den Unterarm.
Manchmal tun ihm die leid, die jünger sind als er, die vielleicht nie in den Genuss kommen dieser paar Jahre in Julians Leben, in denen er noch nicht gewusst hat, dass es den Klimawandel gibt.

Er klappt den Laptop wieder auf. Klickt den letzten Artikel an, dessen Überschrift ihn stutzig gemacht hat. „Klimakrise: Erst Trauer macht handlungsfähig“, steht da. Er liest bis zur letzten Zeile. Dann nimmt er Zettel und Stift und beginnt zu schreiben:

Würde ich trauern, so wie es angemessen erscheint, hätte ich den kleinen Menschen vor Augen, der ich einmal war.
Würde ich trauern, fielen mir seine Träume wieder ein.
Würde ich trauern, stiege das alte Gefühl in mir hoch.
Würde ich trauern, erinnerte ich mich daran, dass die Welt einst ein Ort war, den es zu entdecken galt.
Würde ich trauern, wäre der Schmerz unvergleichlich, darüber, dass diese Welt nun so versperrt erscheint.
In Raum so wie in Zeit.

Würde ich trauern, so wie es angemessen erscheint, könnte ich mir die Nachrichten anhören von jenen, die in ihren jeweiligen Höllen leben.
Würde ich trauern, müsste ich mich nicht schämen über die Kälte in mir.
Würde ich trauern, ließe ich die Bilder aus der Hölle ganz tief in mich hinein.
Würde ich trauern, rührte mich jede Schneeflocke zu Tränen.
Würde ich trauern, legte ich mich in Rauhreifwiesen.
Würde ich trauern, erklömme ich einen Gletscher nach dem anderen.
Würde ich trauern, müsste nicht jede Google-Suche mit einer frohen Nachricht enden.
Würde ich trauern, so wie es angemessen erscheint, könnte ich ehrliche Entscheidungen treffen.
Würde ich trauern, wäre es okay, dass nicht alles gut ausgeht.
Würde ich trauern, würde die Wut so groß, dass sie aus mir heraus müsste.
Würde ich trauern, könnte ich mich von der Stelle rühren.
Würde ich trauern, steckte ich andere an.
Würde ich trauern, kämen wir einander nah.

Text: Leonie Groihofer
Foto: Elisabeth Groihofer

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