Ein radikaler Ansatz im Angesicht des Klimakollapses
Die zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels haben viele Debatten hervorgebracht – von technologischen Lösungen über politische Maßnahmen bis hin zu gesellschaftlichem Wandel. Doch ein Ansatz sticht besonders heraus: Deep Adaptation (Tiefenanpassung, tiefgreifende oder fundamentale Anpassung), maßgeblich geprägt vom britischen Professor Jem Bendell. Der Klimawandel ist bereits im Gange und wir müssen uns anpassen, um gemeinsam die Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Anpassung sollte sicherlich nicht dazu führen, dass wir den Versuch aufgeben, einen ökologischen Kollaps zu vermeiden. Aber wenn wir uns nicht auf das schlimmste (und wahrscheinlichste) Ergebnis vorbereiten, riskieren wir eine noch düsterere Zukunft.

Was ist „Deep Adaptation“?
Deep Adaptation ist mehr als klassische Klimaanpassung. Während „Anpassung“ meist darauf abzielt, bestehende Lebensweisen trotz veränderter Umstände zu erhalten, basiert Deep Adaptation auf der Annahme, dass der Klimakollaps und weitreichende Zusammenbrüche gesellschaftlicher Systeme unvermeidlich sind. Im Zentrum steht daher nicht die Abwehr des Kollapses, sondern die ehrliche Vorbereitung auf ihn – auf Hunger, Zerstörung, Migration und soziale Krisen, die laut Bendell schon in den nächsten Jahrzehnten drohen können.
“Je länger wir uns weigern, darüber zu sprechen, dass der Klimawandel bereits eingetreten ist und unser Leben beeinflusst, desto weniger Zeit bleibt uns für Schadensminimierung.” – Jem Bendell
Bendell wagte es, laut auszusprechen, was viele insgeheim fürchten: Dass das Leben, wie wir es kennen, in großer Gefahr ist und dass es kostbare Zeit verschwendet, so zu tun, als ob es anders wäre.
Hier zum Artikel von Jem Bendell in deutscher Übersetzung, 27. Juli 2018 (rund 25 Seiten + Quellenangaben): Deep Adaptation – Ein Wegweiser, um uns durch die Klimakatastrophe zu führen
Zentrale Inhalte:
- Gesellschaftlicher Kollaps als Prämisse: Der Klimawandel hat ein Ausmaß erreicht, das in den kommenden Jahren zu einem tiefgreifenden Zusammenbruch sozialer, wirtschaftlicher und politischer Systeme führen wird. Nichtlineare Veränderungen und bereits spürbare Auswirkungen – vom Artensterben über extreme Wetterereignisse bis zu Ernteverlusten und Migration – werden als Beleg angeführt.
- Kollaps-Verleugnung: In Forschung und Nachhaltigkeitspraxis wird die Möglichkeit eines Kollapses häufig verdrängt oder nicht thematisiert, obwohl die wissenschaftlichen Indizien zunehmend darauf hindeuten.
- Meta-Rahmen „Deep Adaptation Agenda“: Das Papier schlägt einen neuen Ansatz vor, der sich auf die folgenden vier Aspekte konzentriert:
Die vier Säulen der Deep Adaptation
Bendell formuliert in seiner Agenda vier Leitfragen (4 „R“-s), die dabei helfen sollen, einen Umgang mit der neuen Realität zu finden:
- Resilienz: Was sollten wir an unseren bestehenden Systemen unbedingt erhalten? Welche sozialen Praktiken und Werte gilt es zu schützen? Z.B. lokale Versorgung, Zusammenhalt.
- Verzicht (Relinquishment): Was müssen wir bereitwillig aufgeben – etwa Konsumweisen, materielle Besitztümer oder bestimmte Technologien – um die Krise nicht noch zu verschlimmern? Z.B. Flugreisen, PKWs, etc
- Wiederherstellung (Restoration): Welche alten Fähigkeiten, Werte oder gemeinschaftlichen Ansätze könnten uns heute wieder helfen, damit wir mit den kommenden Schwierigkeiten und Tragödien fertig werden?
- Versöhnung (Reconciliation): Mit wem oder was müssen wir Frieden schließen, angesichts unserer eigenen Sterblichkeit und der Endlichkeit der Zivilisation, um menschliches und ökologisches Leiden zu vermindern?
“Wir können das nicht überstehen, wenn wir es nicht gemeinsam versuchen”, sagt Bendell. “Wir müssen Menschen dort helfen, wo sie bereits leben, genug Nahrung und Wasser zu haben, um Unruhen und Aufstände so gering zu halten, wie wir nur können.”
Zielsetzung:
- Reflexion fördern: Es ist der Versuch, humane Wege durch den – unausweichlichen – Zusammenbruch zu finden und lädt dazu ein, Trauer und Angst über die absehbare Zukunft zu durchleben und daraus neue Wege im persönlichen und gesellschaftlichen Handeln abzuleiten.
- Neue Diskurse ermöglichen: Bendell fordert Wissenschaft, Politik und Praxis dazu auf, die Möglichkeit des Zusammenbruchs nicht zu tabuisieren, sondern aktiv zu erforschen, wie Zukunft unter diesen Umständen gestaltet werden kann.
Eine psychologisch wie gesellschaftlich herausfordernde Perspektive
Deep Adaptation ist provokant, weil der Ansatz unsere gewohnten Lösungsversprechen infrage stellt: Er fordert uns auf, den Kontrollverlust und das Ende bekannter Sicherheiten zu akzeptieren – als Voraussetzung, um offen für radikale soziale, wirtschaftliche und organisatorische Veränderungen zu werden. Dort, wo Klimaanpassung bisher vor allem technisch und planerisch gedacht wurde, fordert Deep Adaptation auch die Stadt- und Regionalentwicklung heraus, neue Perspektiven für das Zusammenleben zu entwerfen.
Kritik und Chancen
Kritiker werfen Bendell Fatalismus vor, Resignation oder gar Panik zu schüren und auf Angst statt auf Handlungsfähigkeit zu setzen. Allerdings empfinden viele den Ansatz auch als befreiend – etwa, weil er Ehrlichkeit und neue Formen der Solidarität und Resilienz in Gemeinschaften fördert. Deep Adaptation ist auch ein Motivator für alle, die von Greenwashing, gebrochenen Versprechen, Verschweigen der Medien, Verdrängen und technologischen Heilsmythen genug haben. Tatsächlich hat Bendells Arbeit viele zum Handeln animiert. Zahlreiche Menschen berichten, dass die Lektüre von Deep Adaptation sie dazu bewegt hat, ihr Leben stärker im Einklang mit der Natur auszurichten: Von der Gründung von Saatgutbibliotheken und Netzwerken zur Ernährungssicherheit bis zur Aufgabe von schädlichen und sinnlosen Jobs.
„Es geht nicht darum, Hoffnung oder Angst zu wählen. Es geht darum, gemeinsam den nächsten Schritt zu tun – so ehrlich wie möglich.“ – Jem Bendell
Warum ist Deep Adaptation relevant?
Der Ansatz lädt dazu ein, lokale Gemeinschaften in den Mittelpunkt zu stellen: Urban Gardening, Tauschkreise, mehr Selbstversorgung und lokale Solidarität werden als Zukunftsmodelle diskutiert. Gerade auch in Graz – einer Stadt, in der Klimaanpassung immer wichtiger wird, sei es durch Hitzeschutz oder neue Grünräume – kann Deep Adaptation helfen, das Thema emotional und praktisch neu zu denken.
Deep Adaptation ist kein Appell zur Kapitulation – sondern ein Weckruf zur aktiven Gestaltung einer Welt, in der Zusammenbruch als realistische Option verstanden wird. Diese Radikalität kann Angst machen, sie macht aber auch frei, neu zu fragen: Wie und mit wem wollen wir in Zukunft leben? Auf was konzentrieren wir uns? Wohin stecken wir unsere Zeit und unser Geld in der kurzen, uns verbleibenden Zeit? Deep Adaptation bedeutet, den Ernstfall zuzulassen und daraus Handlungsfähigkeit zu gewinnen – vielleicht der Schritt, den unsere Gesellschaft am dringendsten braucht.
Siehe auch:
- Facebook-Gruppe Deep Adaptation
- Facebook-Gruppe Deep Adaptation – Wie leben im Angesicht des Klimakollaps? (momentan nicht mehr sehr aktiv)
- Deep Adaptation Forum (DAF): https://www.deepadaptation.info/
- Website von Prof. Jem Bendell: https://jembendell.com/
Quellen:
- https://en.wikipedia.org/wiki/Deep_Adaptation
- https://www.klimareporter.de/gesellschaft/der-weltuntergang-naht-oder-vielleicht-auch-nicht
- https://lifeworth.com/DeepAdaptation-de.pdf
- https://www.arc.ed.tum.de/ud/forschung/forschungsinteressen/deep-adaptation-in-der-planung/
- https://www.vice.com/de/article/jem-bendell-deep-adaption-was-ist-dran-am-klimawandel-aufsatz-der-seine-leser-nachhaltig-verstort/
- https://www.academia.edu/46851180/%C3%9Cber_das_eigene_Ende_hinausdenken_Philosophie_und_deep_adaptation
- https://resilienz-aachen.de/die-klimadebatte-und-der-diskurs-um-die-deep-adaptation-these-aus-resilienzpolitischer-sicht/
- https://polycrisis.org/resource/deep-adaptation-a-map-for-navigating-climate-tragedy-revised-2nd-edition/
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