Wissenschaft vom gesellschaftlichen Zusammenbruch
Die Debatte über den möglichen Zusammenbruch unserer modernen Zivilisation hat in den letzten Jahren spürbar an Fahrt aufgenommen. Klimakrise, Artensterben, Ressourcenverbrauch, geopolitische Unsicherheiten und wirtschaftliche Instabilitäten verstärken das Gefühl, dass unser aktuelles System an seine Grenzen stößt bzw diese bereits überschritten hat. Die Kollapsologie ist dabei ein noch relativ junges Forschungsfeld, das sich mit den möglichen Ursachen und möglichen Verläufen eines Zusammenbruchs komplexer Gesellschaften beschäftigt. Geprägt wurde der Begriff Anfang der 2010er-Jahre in Frankreich und gewinnt seither international an Aufmerksamkeit.

Was ist die Kollapsologie?
Die Kollapsologie ist keine klassische akademische Disziplin, kein formales wissenschaftliches Fachgebiet, sondern vielmehr ein interdisziplinärer Ansatz. Sie beschäftigt sich mit den vielfältigen Faktoren, die zum Kollaps komplexer Gesellschaften beitragen können – etwa Klimakrise, Ressourcenerschöpfung, Biodiversitätsverlust, soziale Ungleichheit oder politische Instabilität. Ziel ist weniger, exakte Prognosen zu liefern, sondern die Komplexität der aktuellen ökologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen zu erfassen und Wege zur Resilienz aufzuzeigen.
Kollapsologie ist daher eine Art „Open-Source-Forschung von Menschen, die befürchten, dass Gesellschaft oder Zivilisation aufgrund des Zusammenwirkens verschiedener interner und externer Faktoren irgendwann, möglicherweise in naher Zukunft, zusammenbrechen könnten.“ so Bohdi Paul Chefurka/Dean Walker, living resilience
„Kollapsolog:innen haben sich zunächst größtenteils darauf beschränkt, die Dimension des Problems zu beschreiben, um einen Bewusstseinswandel zu erreichen. Denn erst wenn man die Möglichkeit des Kollapses überhaupt zulässt und erkennt, dass es keine echten „Lösungen“ mehr gibt, können Strategien entwickelt werden, damit umzugehen. Es geht ihnen deshalb auch um eine „Normalisierung der kommenden Katastrophen“, die den Alltag der Menschen in Zukunft bestimmen könnten und um die Überwindung der psychologischen Barrieren, die eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik bisher verhindert haben. … Kollapsolog*innen wollen die Alarmglocken läuten lassen, bevor die Menschheit von den Ereignissen eingeholt wird.“ – https://www.aswnet.de/themen/klimagerechtigkeit/kollapsologie
Entstehung und Hintergrund
Die bekanntesten Vertreter der Kollapsologie sind die französischen Autoren Pablo Servigne und Raphaël Stevens. Ihr 2015 erschienenes Buch „Wie alles zusammenbrechen kann“ („Comment tout peut s’effondrer“) gilt als Manifest und hat den Begriff international verbreitet. Sie stützen sich auf Forschung aus Ökologie, Soziologie, Geschichte (z.B. Aufstieg und Fall vergangener Zivilisationen) und Systemtheorie. Kollapsologie versteht sich damit als Warnruf, aber auch als Ermutigung, Transformationsprozesse anzustoßen.
Zentrale Fragen der Kollapsologie
Es geht um mehr als Klimawandel:
- Wie wahrscheinlich ist ein gesellschaftlicher oder ökologischer Kollaps?
- Durch welche Dynamiken könnte er ausgelöst werden?
- Welche Rolle spielen Energie, Ressourcen und Ökosysteme?
- Wie können Menschen und Gesellschaften darauf reagieren?
Warum gewinnt die Kollapsologie an Bedeutung?
Aktuelle systemische Krisen verstärken das Interesse an der Kollapsologie:
1. Klimakrise
Die Erderwärmung bringt Kipppunkte mit sich, die große Ökosysteme destabilisieren. Schon heute spüren wir Auswirkungen wie Dürren, Extremwetter, Gletscherschmelze oder Ernteausfälle.
2. Biodiversitätskrise
Die Artenvielfalt schrumpft in einem Tempo, das mit früheren Massenaussterben vergleichbar ist. Der Verlust ganzer Ökosystemfunktionen beeinflusst Ernährung, Wasserverfügbarkeit und soziale Stabilität.
3. Energie- und Ressourcenabhängigkeit
Unsere Gesellschaft ist extrem abhängig von fossilen Energien. Ein zentrales Element der Kollapsologie ist das Konzept des EROI (Energy Return on Investment) – wie viel Energie man aus einer Energiequelle gewinnt im Verhältnis zu dem, was man hineinsteckt. Sinkt der EROI, sinkt die mögliche gesellschaftliche Komplexität.
4. Wirtschaftliche und politische Instabilität
Wachsende Ungleichheit, fragile Lieferketten, Schuldenblasen und geopolitische Konflikte erhöhen das Risiko systemischer Schocks.
Kollaps – was ist damit gemeint?
Ein Kollaps bedeutet weder „Ende der Welt“ noch die „Apokalypse“ oder einen plötzlichen, totalen Zusammenbruch, sondern einen tiefgreifenden Wandel gesellschaftlicher Strukturen. Ein Kollaps bezeichnet im kollapsologischen Kontext eine tiefgreifende und irreversible Reduktion der Komplexität einer Gesellschaft. In der Forschung werden verschiedene Szenarien diskutiert: vom langsamen Systemrückbau hin zu regionaleren und lokaleren Lebensformen bis hin zu abrupten und chaotischen Zusammenbrüchen infolge von Kaskadeneffekten. Ein System nach dem anderen wird nach dieser Vorstellung kollabieren und damit die Menschheit um Jahrhunderte zurückwerfen. Die Klimakrise spielt hierbei oft die zentrale Rolle – Extremsituationen wie Dürren, Überschwemmungen oder politische Konflikte sind häufig miteinander vernetzt und können sich gegenseitig verstärken.
Die Definition, die von den Begründern der Kollapsologie Pablo Servigne und Raphaël Stevens („Comment tout peut s’effondrer“, Paris 2015) vorgeschlagen wird, lautet: „Es geht nicht um das Ende der Welt und auch nicht um die Apokalypse. Der Kollaps ist auch nicht eine einfache Krise (…) oder eine punktuelle Katastrophe (…). Ein Kollaps ist ein Prozess, an dessen Ende grundlegende Bedürfnisse (Wasser, Nahrung, Unterkunft, Kleidung, Energie, etc.) einer Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr (für einen vernünftigen Preis) von gesetzlich geregelten Anbietern gedeckt werden.“
Mögliche Kollapsfolgen sind unter anderem:
- Zusammenbruch von Versorgungsketten
- politische Instabilität
- wirtschaftlicher Rückgang
- drastisch reduzierte Bevölkerungszahl
- Verlust technologischer Leistungsfähigkeit
Der Begriff knüpft an Studien historischer Zusammenbrüche an – etwa des Römischen Reichs, der Maya oder der Wikinger in Grönland.
Das Standardwerk zur historischen Perspektive stammt vom US-Autor Joseph Tainter, der einen Kollaps als energetisch begründeten Verlust komplexer Strukturen versteht.
Kritik und Perspektiven
Die Kollapsologie wird teilweise als zu pessimistisch oder fatalistisch kritisiert. Viele Kollapsolog*innen betonen jedoch, dass die Beschäftigung mit Zusammenbrüchen nicht Resignation und auch nicht Panik bedeutet, sondern gerade systemisches Denken und konstruktives Handeln anregt. Im Zentrum steht der Versuch, Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit anzuerkennen und gemeinschaftliche Resilienz, also Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit zu stärken. Also zum Beispiel: Welche lokalen Lösungen, solidarischen Strategien und resilienten Gemeinschaften können wir hier in Graz aber auch weltweit entwickeln, um für zukünftige Krisen gewappnet zu sein?
Andere Kritiker*innen werfen den Kollapsolog*innen auch vor, rein spekulativ zu sein, keine klaren Vorhersagen liefern zu können, wissenschaftliche Methoden zu vermischen und Risiken zu überbetonen. Allerdings sind systemische Risiken real und bereits gut dokumentiert, Vorsorge ist immer besser als nachträgliches Krisenmanagement und systemische Zusammenhänge werden gerne übersehen.
Quellen:
- Pablo Servigne u. Raphael Stevens: Comment tout peut s’effondrer – Wie alles zusammenbrechen kann
- Jared Diamond: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen
- https://greenly.earth/en-gb/blog/ecology-news/what-is-collapsology
- https://www.aswnet.de/themen/klimagerechtigkeit/kollapsologie
- https://livingresilience.net/my-life-in-collapse-bodhi-paul-chefurka/
- https://de.wikipedia.org/wiki/Pablo_Servigne
- https://de.wikipedia.org/wiki/Zivilisationskollaps
- https://www.aswnet.de/themen/klimagerechtigkeit/kollapsologie
- https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/kollapsologie-122706
- https://www.seuil.com/ouvrage/comment-tout-peut-s-effondrer-pablo-servigne/9782021223316
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