Die andere Seite eines amerikanischen Feiertags
Thanksgiving (am vierten Donnerstag im November) ist eng mit der Geschichte von Kolonialismus, Landraub, Gewalt und kultureller Auslöschung gegenüber Indigenen in Nordamerika verknüpft, auch wenn der Feiertag heute oft als harmloses Familienfest erzählt wird. Viele indigene Gruppen begehen den Tag daher bewusst als „National Day of Mourning“ – einen Trauer- und Protesttag gegen diese bis heute anhaltende Unterdrückung. Mit unserem Beitrag möchten wir darauf aufmerksam machen, dass viele Gemeinschaften – wie zB indigene Völker in Nordamerika – bereits tiefgreifende, gesellschaftliche Kollapse durchlebt haben oder gegenwärtig erleben.
Der Mythos vom „ersten Thanksgiving“
Die populäre Schulbuchgeschichte erzählt von einem „harmonischen Erntedankfest im Jahr 1621 in Plymouth, bei dem Pilger und Wampanoag drei Tage friedlich gemeinsam feierten“. Historisch war diese Begegnung eingebettet in eine Situation, in der bis zu drei Viertel der Wampanoag bereits an von Europäern eingeschleppten Krankheiten gestorben waren und beide Seiten aus Gründen nackten Überlebens und strategischer Bündnisse kooperierten.

Im Jahr 1621 hatten die Wampanoag bereits 90 % ihrer Bevölkerung durch europäische Krankheiten verloren, die von Entdeckern und Händlern eingeschleppt worden waren, noch bevor die Pilgerväter überhaupt eintrafen. Ihr Anführer Massasoit ging ein politisches Bündnis mit den hungernden Kolonisten ein, da sein Volk nach der verheerenden Pest ohnehin schon geschwächt war. Sie feierten ein dreitägiges Erntefest, doch dies geschah nicht aus Freundschaft oder Dankbarkeit. Es war eine Überlebensstrategie eines Volkes, das bereits mit katastrophalen Verlusten zu kämpfen hatte. Innerhalb von 50 Jahren sollte dieses Bündnis sie alles kosten.
Der heutige Mythos blendet aus, dass die Kolonisten auf bereits bewohntes Wampanoag-Land kamen und deren ökologische Kenntnisse zum Überleben nutzten. In der symbolischen Erzählung wird daraus eine Art Gründungsmythos der USA, der koloniale Gewalt in eine Geschichte gegenseitiger Dankbarkeit umschreibt.
Vom „Dankfest“ zur Kolonialherrschaft
Das anfängliche Bündnis zwischen Wampanoag und Pilgern zerbrach in den Jahrzehnten danach, als die Zahl der Siedler stark wuchs und immer mehr indigenes Land durch Betrug, Zwangsverträge und offene Gewalt angeeignet wurde. In Konflikten wie dem sogenannten King Philip’s War in den 1670er Jahren wurden Tausende indigene Menschen getötet, versklavt oder vertrieben.
Hinzu kommt, dass der Begriff „Thanksgiving“ schon im 17. Jahrhundert auch für Danktage nach Massakern an indigenen Gemeinschaften genutzt wurde. In Quellen wird etwa ein „Day of Thanksgiving“ nach der gewaltsamen Vernichtung von Pequot-Dörfern erwähnt, bei der Frauen, Kinder und alte Menschen getötet wurden.
Die Schätzungen der indigenen Todesfälle variiert je Quelle. Durch Tötungen, Krankheiten, Kriege, Vertreibungen und Hungersnöte geht man von 5 bis 10 Millionen getöteter indigener Menschen aus. Europäische Krankheiten wie Pocken, Masern und Influenza töteten 80–95% der indigenen Bevölkerung, oft vor direktem Kontakt, da Keime vorausreisten. Ergänzt wurden diese durch Kriege (z. B. King Philip’s War), Zwangsverschleppungen wie den Trail of Tears (ca. 4.000–15.000 Tote bei den Cherokee allein) und Landraub, der Nahrungsketten zerstörte. Bis 1880 sank die US-indigene Bevölkerung auf unter 307.000, ein Rückgang um über 90% in manchen Regionen.
Unsichtbarmachung und dominante Erzählung
Dass Thanksgiving heute meist als unpolitischer Familienfeiertag ohne Kolonialkontext inszeniert wird, trägt zur Unsichtbarmachung indigener Geschichte bei. Kinder lernen häufig ein romantisiertes Bild von „Pilgern und Indianern“, das Landraub, Seuchen, Zwangsassimilation und Völkermord ausblendet und so rassistische Stereotype stabilisiert.
Diese Mythologie unterstützt ein nationales Selbstbild, in dem Europäer als friedliche Gründer erscheinen, während indigene Völker entweder folklorisiert oder aus der Geschichte hinausgeschrieben werden. Damit wird nicht nur vergangenes Unrecht verharmlost, sondern auch der Widerstand und das Fortbestehen indigener Nationen bis heute unsichtbar gemacht.
National Day of Mourning und indigene Perspektiven
Seit 1970 organisieren indigene Aktivist:innen in Neuengland jedes Jahr am Thanksgiving-Tag den „National Day of Mourning“ in Plymouth. Dieser Tag erinnert an die Ermordung von Millionen indigener Menschen, den Diebstahl ihrer Territorien und die bis heute anhaltende Gewalt und Diskriminierung. Es soll auf Folgendes aufmerksam gemacht werden:
- das Leid der Kolonisierung
- gebrochene Verträge
- systemische Diskrimierung
- die fortdauernde Verletzung indigener Rechte
Für viele indigene Communities ist Thanksgiving daher weniger ein Fest, sondern ein Anlass, Trauer, Widerstand und Forderungen nach Landrechten, kultureller Selbstbestimmung und Klimagerechtigkeit sichtbar zu machen. In diesem Sinn steht Thanksgiving exemplarisch dafür, wie ein kolonialer Gewaltakt in eine nationale Erfolgsgeschichte umgedeutet wird – und wie Indigene sich dieser Erzählung widersetzen.
Indigene Gesellschaften sind eines der Beispiele, bei denen durch koloniale Gewalt, Landraub und Umweltzerstörung bereits systemische Kollapse erlebt und auch überlebt wurden – eine wichtige Erinnerung daran, dass Kollaps immer auch soziale und politische Dimensionen hat.
Quellen:
- https://en.wikipedia.org/wiki/Myth_of_the_First_Thanksgiving
- https://blog.nativehope.org/what-does-thanksgiving-mean-to-native-americans
- https://www.culturalsurvival.org/news/thanksgiving-day-mourning-many-indigenous-communities
- https://www.smithsonianmag.com/history/thanksgiving-myth-and-what-we-should-be-teaching-kids-180973655/
- https://en.wikipedia.org/wiki/National_Day_of_Mourning_(United_States_protest)
- https://visit.archives.gov/whats-on/explore-exhibits/thanksgiving-historical-perspectives
- https://www.britannica.com/topic/When-Was-the-First-Thanksgiving
- https://www.sciencenews.org/article/thanksgiving-myth-persists-history-memory-science
- https://www.nlm.nih.gov/nativevoices/timeline/200.html
- https://sites.brown.edu/rnehk12/project/shifting-narratives-thanksgiving-and-the-national-day-of-mourning/
- https://www.pbs.org/newshour/nation/a-historian-explains-how-the-pilgrims-took-over-thanksgiving-and-who-has-been-erased
- https://www.aljazeera.com/opinions/2017/11/23/thanksgiving-the-annual-genocide-whitewash
- https://armenianweekly.com/2018/11/14/a-native-perspective-on-thanksgiving/
- https://www.aclu-wy.org/news/decolonize-thanksgiving-cultivating-authentic-and-respectful-holiday-traditions/
- https://theworld.org/stories/2024/11/27/native-americans-hold-national-day-of-mourning-on-thanksgiving-in-solidarity-with-indigenous-struggles-around-the-globe
- https://muwekma.org/blog/2023/september/what-does-thanksgiving-mean-to-native-americans.html
- https://kids.nationalgeographic.com/history/article/first-thanksgiving
- https://www.potawatomi.org/blog/2020/11/25/the-true-dark-history-of-thanksgiving/
- https://americanindian.si.edu/nk360/informational/rethinking-thanksgiving
- https://en.wikipedia.org/wiki/Population_history_of_the_Indigenous_peoples_of_the_Americas
- https://www.ebsco.com/research-starters/anthropology/historical-demography-native-americans
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