Wie eine kleine Gemeinde die Weltwirtschaftskrise austrickste
In den Jahren der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre herrschte in Europa Hoffnungslosigkeit: Arbeitslosigkeit, Armut und wirtschaftlicher Stillstand prägten das Bild. Doch eine kleine Gemeinde in Tirol, Wörgl, schrieb Geschichte – mit einem mutigen Geldexperiment, das als „Wunder von Wörgl“ weltweite Aufmerksamkeit erlangte.
Die Ausgangslage: Wörgl im Krisenmodus
Wörgl war Anfang der 1930er Jahre schwer getroffen. Die lokale Wirtschaft lag am Boden: Fabriken schlossen, hunderte Menschen verloren ihre Arbeit, die Gemeinde war hoch verschuldet und konnte nicht einmal mehr die nötigsten Investitionen tätigen. Die Deflation sorgte dafür, dass das wenige vorhandene Geld gehortet wurde, anstatt im Umlauf zu bleiben – ein Teufelskreis, der die Not immer weiter verschärfte.
Die Idee: Schwundgeld nach Silvio Gesell
In dieser Situation griff Bürgermeister Michael Unterguggenberger zu einer revolutionären Idee, inspiriert von den Theorien des Sozialreformers Silvio Gesell: Er führte das sogenannte „Schwundgeld“ oder „Freigeld“ ein. Das Prinzip: Geld sollte nicht gehortet, sondern möglichst schnell ausgegeben werden. Dazu musste auf jeden Schein monatlich eine Marke im Wert von einem Prozent des Nennwerts geklebt werden – sonst verlor das Geld seine Gültigkeit. So wurde Sparen unattraktiv, Konsum und Investitionen hingegen gefördert.
Das Experiment: Der Wörgler Schilling
Im Juli 1932 beschloss der Gemeinderat einstimmig, das Experiment zu wagen. Die Gemeinde gab Arbeitswertscheine – den „Wörgler Schilling“ – aus, die durch hinterlegte Schillinge bei der Raiffeisenkasse gedeckt waren. Die Scheine konnten für kommunale Arbeiten, Steuern und Einkäufe bei lokalen Händlern genutzt werden. Die Bevölkerung und die Geschäftsleute akzeptierten das neue Geld schnell, nicht zuletzt, weil es auch zum Bezahlen von Steuern verwendet werden konnte.


Wie funktionierte die Entwertung („Schwund“) beim Wörgler Schilling?
Der Wörgler Schilling war ein sogenanntes Schwundgeld – das heißt, er verlor regelmäßig einen kleinen Teil seines Wertes, wenn er nicht ausgegeben wurde. Ziel war es, das Horten des Geldes unattraktiv zu machen und so den Umlauf zu beschleunigen. Hier die Details zum Entwertungsmechanismus:
Monatliche Entwertung durch Klebemarken
- Jeder Wörgler Schilling-Schein hatte auf der Vorderseite zwölf kleine Felder für Wertmarken.
- Am Ende jedes Monats musste auf jedes im Umlauf befindliche Geldschein-Feld eine Marke geklebt werden. Diese Marke kostete 1 % des Nennwerts des Scheins.
- Beispiel: Für einen 10-Schilling-Schein musste monatlich eine Marke im Wert von 10 Groschen (1 % von 10 Schilling) gekauft und aufgeklebt werden, damit der Schein weiterhin gültig blieb.
- Wer die Marke nicht aufklebte, konnte den Schein nicht mehr als Zahlungsmittel verwenden – er war also „entwertet“.
Was passierte mit dem Geld durch die Entwertung?
- Die Gebühren für die Marken flossen an die Gemeindekasse und wurden für öffentliche Investitionen verwendet.
- Das System sorgte dafür, dass niemand das Geld lange behalten wollte, um die monatliche Gebühr zu vermeiden. Das Geld wurde also möglichst schnell ausgegeben.
- Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes erhöhte sich stark: Die Scheine wechselten im Durchschnitt über 400-mal in 14 Monaten den Besitzer.
Was bedeutete das für die Nutzer?
- Wer den Schein schnell weitergab, musste keine oder nur wenige Marken kaufen.
- Wer das Geld länger behielt, zahlte mit jeder Marke eine kleine „Strafe“ für das Horten.
- Nach einem Jahr wären alle zwölf Felder beklebt gewesen – das entsprach insgesamt 12 % des Nennwerts als Gebühr.
Die Wirkung: Ein wirtschaftliches Wunder
Das Ergebnis war spektakulär: Die Wirtschaft in Wörgl kam wieder in Schwung. Die Gemeinde konnte Straßen, Brücken und andere Infrastrukturprojekte finanzieren. Die Arbeitslosigkeit sank in Wörgl um 16 %, während sie im restlichen Österreich weiter anstieg. Die Steuereinnahmen stiegen, der Rückstand an offenen Zahlungen schrumpfte, und das gesellschaftliche Klima besserte sich deutlich. Über 100 weitere Gemeinden wollten das Modell übernehmen, internationale Delegationen – sogar aus Frankreich und den USA – reisten an, um das „Wunder von Wörgl“ zu studieren.
Das Ende: Das Monopol der Nationalbank
Der Erfolg war jedoch nicht von Dauer. Die Österreichische Nationalbank sah ihr Geldmonopol bedroht und setzte ein Verbot durch. Im September 1933 musste das Experiment nach nur 14 Monaten eingestellt werden. Kurz darauf kehrte die wirtschaftliche Not nach Wörgl zurück.
Regionalwährungen
Das ursprüngliche Schwundgeld-Konzept aus Wörgl lebt heute in vielen lokalen und regionalen Währungen weiter – wenn auch meist in moderner, digitaler oder organisatorisch angepasster Form. Regionalwährungen, wie zB der Waldviertler, verlieren pro Quartal 2% ihres Wertes, was ebenfalls dem Prinzip des Schwundgeldes entspricht und den Umlauf anregen soll.
Das Vermächtnis: Inspiration für die Zukunft
Das Wunder von Wörgl bleibt bis heute ein Symbol für die Kraft lokaler Initiativen und alternativer Wirtschaftsmodelle. Es zeigt, wie innovative Ideen und Zusammenhalt eine Gemeinschaft aus der Krise führen können – und inspiriert bis heute Regionalwährungen und alternative Geldsysteme weltweit. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit lohnt sich ein Blick zurück auf dieses inspirierende Kapitel österreichischer Geschichte.
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Quellen:
- https://de.wikipedia.org/wiki/W%C3%B6rgler_Schwundgeld
- https://www.unsertirol24.com/blog/das-wunder-von-woergl/
- https://heimat.woergl.at/verschiedenes/freigeld-woergl
- https://monkee.rocks/blog/woergl-schwundgeld-freigeld/
- https://www.tirol.gv.at/fileadmin/themen/kunst-kultur/museum/Museen_in_Tirol/Fachartikel_A-Z_2010-2022/Woergl-HeimatmuseumWoergl_OdM_08-2012_IP.pdf
- https://www.focus.de/wissen/mensch/geschichte/wunder-von-woergl-so-wehrte-sich-ein-kleine-gemeinde-gegen-die-wirtschaftskrise_id_10620921.html
- https://www.film.idm-suedtirol.com/de/funding/produktionsspiegel/das-wunder-von-woergl/1948
- https://www.woergl.at/wissenswertes/das_freigeld_experiment_von_woergl
- https://monkee.rocks/blog/woergl-schwundgeld-freigeld/
- https://martin-ebner.net/topics/money/freiwirtschaftslehre/
- https://userpage.fu-berlin.de/roehrigw/woergl/alles.htm
- https://www.sozialismus.info/2014/05/freigeldtheorie-und-tauschkreise/
- https://profitmacher.com/schwundgeld/
- https://www.geschichte.fm/podcast/zs87/
- https://www.deutschlandfunk.de/1932-woergl-freigeld-schwundgeld-100.html
- https://jungefreiheit.de/kolumne/2011/schwundgeld-illusion/
- http://www.spurpop.at/weitsichtig-wirtschaften/
- https://www.br.de/mediathek/podcast/alles-geschichte-history-von-radiowissen/raus-aus-der-krise-das-wunder-von-woergl/1854757
- https://de.wikipedia.org/wiki/Komplement%C3%A4rw%C3%A4hrung
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