Normalitätsverzerrung (Normalcy Bias)

Unser Drang zur Normalität

Kommt dir die jetzige Situation auch so seltsam vor? Die Welt rund um uns steht entweder in Flammen, wird überflutet oder durch Stürme zerstört und wir? Wir werden immer ruhiger! Obwohl wissenschaftliche Fakten und spürbare Extremwetterereignisse zunehmen, reagieren Gesellschaften weiterhin zögerlich auf die eskalierende Klimakrise. Ein Grund dafür liegt in der Normalitätsverzerrung (Normalcy Bias) – einem psychologischen Mechanismus, der uns in trügerischer Sicherheit wiegt. Warum nehmen wir (reale) Bedrohungen nicht ernst?

Warum unser Gehirn Krisen verharmlost

Der Normalcy Bias bzw die Normalitätsverzerrung ist eine kognitive Verzerrung, die dazu führt, dass wir Bedrohungen wie die Klimakrise, die Wahrscheinlichkeit von Katastrophen oder andere drastischen Veränderungen unterschätzen, selbst wenn bereits eindeutige Warnsignale vorliegen. Menschen neigen dazu, anzunehmen, dass alles ganz normal weiterlaufen wird und sehen den Status quo als dauerhaft an. Weil sie Stabilität und Vorhersehbarkeit bevorzugen und plötzliche und drastische Veränderungen nur schwer akzeptieren, da diese Angst und Unsicherheit auslösen. Daher werden Bedrohungen ignoriert oder herunter gespielt.

  • Stabilitätsillusion: Das Gehirn interpretiert Bedrohungen als temporäre Abweichungen und hält am Gewohnten fest. So ignorieren viele die Tatsache, dass jedes Jahr die Temperaturen steigen.
  • Optimismusverzerrung: 70 % der Menschen glauben, persönlich weniger stark betroffen zu sein als andere („Mir wird schon nichts passieren“). Über die Optimismusverzerrung folgt ein eigener Artikel.
  • Kognitive Dissonanz: Die Diskrepanz zwischen klimaschädlichem Verhalten und ökologischem Wissen löst Abwehrreaktionen wie Verdrängung aus. Unser Gehirn verarbeitet bedrohliche Informationen langsamer oder verdrängt sie ganz. Hier mehr zur Kognitiven Dissonanz.

Wozu diente dieser Mechanismus früher?

Unser Steinzeit-Gehirn ist also dazu konditioniert, Routine und Stabilität aufrecht zu erhalten. Für unsere Vorfahren war dies durchaus nützlich, da sie sich so besser auf konkrete Gefahren, wie zB Nahrungsmittelknappheit oder Raubtiere konzentrieren konnten und weniger mit abstrakten Gefahren aufgehalten wurden. Es war eine Art Selbstschutzmechanismus.

  • Energieeffizienz: Die Tendenz, Bedrohungen zu unterschätzen, half unseren Vorfahren, Energie zu sparen. Das Gehirn verarbeitet bedrohliche Informationen langsamer, um emotionalen Stress zu minimieren. Dies ermöglichte es, Ressourcen für wichtigere Überlebensaufgaben zu bewahren.
  • Fokussierung auf unmittelbare Gefahren: Unsere Evolution hat uns darauf ausgerichtet, auf unmittelbare Bedrohungen zu reagieren. Dies war in einer Umgebung voller täglicher Herausforderungen wie Raubtiere oder Naturkatastrophen überlebenswichtig.
  • Stressreduktion: Der Normalcy Bias half, chronischen Stress zu reduzieren, indem nicht jede potenzielle Gefahr als existenzielle Bedrohung wahrgenommen wurde. Dies war wichtig für die langfristige Gesundheit und Fortpflanzungsfähigkeit.
  • Gruppenzusammenhalt: In kleinen Gruppen förderte der Normalcy Bias möglicherweise den Zusammenhalt, indem er half, Panik zu vermeiden und kooperatives Verhalten zu fördern.
  • Überlebensstrategie bei Raubtierangriffen: Eine evolutionäre Erklärung für den Normalcy Bias könnte auch sein, dass eine Art Lähmung eine bessere Chance gab, einen Angriff zu überleben, da Raubtiere weniger wahrscheinlich Beute sehen, die sich nicht bewegt.

Warum dieser Mechanismus aber heute fatal wirkt

So sinnvoll das damals war, umso fataler ist es jetzt. Die Verzerrung hat konkrete Folgen, da wir die Warnzeichen missachten, keine ausreichenden Klimaschutzmaßnahmen ergreifen und uns auch nicht ausreichend auf andere Krisen vorbereiten. Wir machen einfach weiter, als ob nichts wäre.

  • Verzögerung und verpasste Zeitfenster: Seit 1990 sind die globalen CO₂-Emissionen um 60 % gestiegen, obwohl die Wissenschaft damals bereits vor den Risiken warnte.
  • Politische Trägheit: Trotz Hitzesommern mit über 40 °C in Europa (wie 2022 und 2023) dominieren in Debatten noch immer Aussagen wie „Wir dürfen die Wirtschaft nicht überfordern“.
  • Individuelle Untätigkeit: Obwohl viele die Klimakrise als ernsthaftes Problem einstufen, ändern nur wenige ihr Verhalten.

Rolle der Normalitätsverzerrung bei Naturkatastrophen

Unterschätzung von Gefahren

  • Menschen neigen dazu, die Wahrscheinlichkeit und Auswirkungen von Naturkatastrophen zu unterschätzen.
  • Etwa 70% der Menschen zeigen auch während einer Katastrophe eine Tendenz zur Normalität.
  • Viele ignorieren Wetterwarnungen oder glauben, „es wird schon nicht so schlimm“

Verzögerte Reaktionen

  • Betroffene zögern oft mit Evakuierungen, selbst wenn eindeutige Warnzeichen vorliegen.
  • Bei Hurrikan Katrina weigerten sich Tausende, New Orleans zu verlassen, trotz dringender Evakuierungsaufrufe. In Sevilla, Spanien wurde im Herbst 2024 viel zu spät gewarnt.
  • Menschen überprüfen häufig mehrere Informationsquellen, bevor sie handeln, was wertvolle Zeit kostet.

Mangelnde Vorbereitung

  • Der Normalcy Bias führt zu unzureichender Vorbereitung auf Naturkatastrophen.
  • Die fehlende Vorbereitung erhöht das Risiko für erhebliche Schäden und Verluste.
  • Und selbst bei vorhandenen Evakuierungsplänen weigern sich manche, ihr Zuhause zu verlassen.

Psychologische Auswirkungen

  • Menschen interpretieren Warnsignale oft optimistisch, um kognitive Dissonanz zu vermeiden.
  • Das Gehirn verarbeitet bedrohliche Informationen langsamer, um emotionalen Stress zu minimieren.
  • Diese verzerrte Wahrnehmung kann die Handlungsfähigkeit in Krisensituationen stark einschränken.

Aktuelle Beispiele für die Normalitätsverzerrung in der Klimakrise

  • „Österreich allein kann nichts ausrichten“
    Eine Verzerrung, die globale und auch historische Verantwortung kleinredet.
  • „Technologie wird das Problem schon lösen“
    Dieses Narrativ ignoriert, dass selbst optimistische Szenarien des IPCC eine sofortige Reduktion der Emissionen voraussetzen.
  • „Das Wetter war schon immer wechselhaft“
    Eine Argumentation, die Extremereignisse wie die 2024er Flutkatastrophe in Südostasien (über 10.000 Tote) als Einzelfälle abtut.
  • „Die Klimawissenschaft übertreibt“
    Im Gegenteil – Wissenschaft wird immer vorsichtig argumentiert.
  • „In Österreich wird es schon nicht so schlimm werden“
    Extremwetter wie Überschwemmungen, Erdrutsch, Stürme, Hagel, Hitzewellen, Dürre und damit verbunden Waldbrände nehmen auch bei uns zu.

Historische Beispiele

Mehrere historische Ereignisse haben den Normalcy Bias deutlich gezeigt:

  • Der Untergang von Pompeji (79 n. Chr.): Trotz wiederholter Erdbeben und Anzeichen vulkanischer Aktivität ignorierten viele Einwohner Pompejis die Warnzeichen. Sie beobachteten den Ausbruch des Vesuvs stundenlang, ohne zu evakuieren, in der Annahme, die Situation würde sich wie in der Vergangenheit normalisieren.
  • Der Untergang der Titanic (1912): Angestellte der White Star Line trafen unzureichende Vorbereitungen zur Evakuierung der Passagiere. Viele Menschen unterschätzten die Wahrscheinlichkeit und die möglichen Auswirkungen eines Worst-Case-Szenarios.
  • Der Hurrikan Katrina (2005): Tausende von Menschen weigerten sich, New Orleans zu verlassen, als sich der Hurrikan näherte. Sie unterschätzten die Gefahr, da sie bereits frühere Hurrikans überstanden hatten.

Ein weiteres Beispiel ist zB das Vernachlässigen der eigenen Gesundheit. Selbst kleinere Warnzeichen wie Übergewicht oder Bluthochdruck werden noch normalisiert. Erst der Herzinfarkt lässt eventuell aufwachen.

Überwindung der Normalitätsverzerrung

Um in Krisenzeiten handlungsfähig zu bleiben und rechtzeitig die angemessenen Entscheidungen zu treffen, ist es notwendig, sich darauf vorzubereiten.

  • Bewusste Auseinandersetzung mit potentiellen Gefahren
  • Realistische Risikoeinschätzung
  • proaktive Planung

Um den Normalcy Bias in der Klimakrise zu überwinden, ist es zunächst aber wichtig, die Dringlichkeit des Problems zu kommunizieren.

  • Erkennen und Bewusstmachen des Normalcy Bias: Lies dir diesen Artikel hier genau durch. Sprich über diese Kognitive Verzerrung, frag dein Gegenüber, ob ihr/ihm das nicht auch komisch vorkommt, dass gerade alle immer ruhiger werden.
  • Veränderung ist unvermeidbar! Nur weil es bisher nicht passiert ist, heißt das nicht, dass es nicht geschehen wird.
  • Klimakrise nicht verharmlosen: Benennen der Gefahr durch den Klimawandel. Immer wieder laut aussprechen, dass es nicht normal ist, dass täglich weltweit mehrere Extremwetterereignisse passieren. Siehe dazu hier.
  • Stell einen persönlichen Bezug zur Klimakrise her.
  • Handlungsfähigkeit stärken: Man kann zu jeder Zeit, auch und vor allem in Krisenzeiten, aktiv werden. Wir haben die Wahl, zu kämpfen oder in Schockstarre zu verfallen.

Die Klimakrise erfordert ein Umdenken: Nicht die Veränderung ist das Risiko, sondern das Festhalten an einer vermeintlichen Normalität, die es längst nicht mehr gibt.

Indem sich die Klimakrise gerade verschärft, müssen wir uns auch mit aller Kraft auf Katastrophen wie Extremwetter und einen Klimakollaps vorbereiten. Amanda Ripley (Autorin von „The Unthinkable: Who Survives When Disaster Strikes – and Why?“ erklärt, dass es drei Reaktionsphasen in Katastrophen gibt:

  1. Verleugnung der Katastrophe
  2. Überlegung: Was ist zu tun? Unvorbereitet kann diese Phase in einer Stresssituation schwierig werden.
  3. Entscheidender Moment der Reaktion: Der Mensch muss schnell und entschlossen handeln.

Je schneller man durch Phase 1 und 2 kommt, desto schneller wird man zum Handeln beginnen. Daher ist (gedankliche und konkrete) Vorbereitung so wichtig.

Was ist jetzt zu tun?

Wir werden es zunehmend mit Wetterphänomenen zu tun bekommen, die es bisher so nie gab, mit Folgen, die wir nicht abschätzen können. Die negativen Auswirkungen von Normalcy Bias können durch die vier Phasen der Katastrophenhilfe bekämpft werden* (Quelle: https://deutsch.wikibrief.org/wiki/Normalcy_bias):

  • Vorbereitung: einschließlich der öffentlichen Anerkennung der Möglichkeit einer Katastrophe und Erstellung von Notfallplänen.
  • Warnung: einschließlich klarer, eindeutiger und häufiger Warnungen und Unterstützung der Öffentlichkeit, sie zu verstehen und zu glauben.
  • Impact: die Phase, in der die Notfallpläne wirksam werden und Rettungsdienste, Rettungsteams und Katastrophenhilfeteams zusammenwirken.
  • Nachbereitung: Wiederherstellung des Gleichgewichts im Nachhinein, indem sowohl Hilfsgüter als auch Hilfe für Bedürftige bereitgestellt werden.

Dich interessiert die Psychologie hinter der Klimakrise?

Quellen:

  • https://en.wikipedia.org/wiki/Normalcy_bias
  • https://www.kollapspsychologie.de/news-details/bloss-keine-ausweglosigkeit.html
  • https://www.buchingerkuduz.com/blog/klimarisiken-wie-werden-wir-uns-dem-risiko-bewusst/
  • 25.03.2025: https://praxistipps.focus.de/normalcy-bias-einfach-erklaert_186241
  • https://www.klimaaktiv.at/klimabildung/klimakommunikation/worum-gehts/die-psychologie-der-klimakrise
  • https://scilogs.spektrum.de/gedankenwerkstatt/die-verzerrte-wahrnehmung-in-der-klimadiskussion/
  • https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/wie-einzelne-versuchen-die-klimakrise-kleinzureden-und-wieso-manche-ihnen-glauben-a-35759cf5-6a49-44ed-9f66-2e59fecdf753
  • https://www.sciencemediacenter.de/angebote/klimawandel–wer-hilft-den-menschen-sich-zu-aendern-teil-4-19146
  • https://www.br.de/nachrichten/wissen/mit-welchen-strategien-der-klimawandel-verharmlost-wird-faktenfuchs,TLTLSPW
  • https://www.wissenmachtklima.de/optimism-bias-optimismusverzerrung/
  • Was motiviert Menschen, sich auf Klimarisiken einzustellen? https://www.klimawandelanpassung.at/newsletter/nl40/kwa-motivationanpassung
  • https://www.uibk.ac.at/ibf/blog-wirtschaft-und-verantwortung/posts/ich-sehe-etwas-was-du-nicht-siehst—die-psychologie-hinter-der-klimakrise.html
  • *https://deutsch.wikibrief.org/wiki/Normalcy_bias
  • Nachhaltig kritisch – Insta-Post 20.3.2025
  • https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10175750/
  • https://www.scribbr.com/research-bias/normalcy-bias/

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