Sozialer Kipppunkt

Kann soziales Klima kippen, ohne dass das Klima kippt?

Was, wenn Klimagerechtigkeit ansteckend ist?


Als sozialer Kipppunkt wird der Moment in einem sozialen System bezeichnet, ab dem eine kleine Veränderung einen bereits eingeleiteten (positiven) Wandel beschleunigt und unsere Gesellschaft verändert wird. Oft fragen wir Aktivist*innen uns, ob unser Tun Sinn macht. Schließlich könnten auch wir anderes tun, mehr Freizeit haben, mehr Geld verdienen oder ein Buch rein zur Freude lesen. Stattdessen sind wir am Blogschreiben, auf der Straße, in Vorträgen, ständig beim Überlegen, was wir noch tun können. Wir wollen mit unserem Tun möglichst viele Menschen erreichen und bewegen. Warum? Zur Lösung der Klimakrise ist ein schneller gesellschaftlicher Wandel mit viel Rückhalt aus der Bevölkerung nötig. Dazu braucht es mehr Menschen.

Duden: Kipppunkt, der [alternativ: Kipp-Punkt]: Stelle oder Position, an der etwas das Gleichgewicht verliert; auch Zeitpunkt, ab dem etwas unumkehrbar ist.

So wie die Klima-Kipppunkte Teil der größten Bedrohung sind, der wir gegenüberstehen und die Klima- und Artenkrise befeuern, kann dieselbe Logik auch zur Lösung beitragen. – Prof. Dr. T. Lenton, Universität Exeter

Soziale Kipppunkte erreichen

„Kann es sein, dass eine kritische Masse an Menschen das Ruder in der Klimakrise herumreißen könnte, selbst wenn es nicht die Mehrheit ist? Das Konzept der „Social Tipping Interventions“ spielt in der Klimawissenschaft und -bewegung eine immer größere Rolle und gibt vielen Menschen Zuversicht, dass sie trotz eskalierender globaler Krisen einen relevanten Beitrag leisten können. Denn das Modell zeigt, dass stark beschleunigte Veränderungen möglich sind, wenn in bestimmten Feldern (z.B. Städte, Energiewende, Werte/Normen) soziale Kipppunkte erreichen werden.“*

Wir Menschen sind soziale Wesen, je nachdem wie unsere Gruppe reagiert, so reagieren auch wir. Wir müssen einen sozialen Kipppunkt erreichen, eine soziale Norm, die umweltschädliches Verhalten ablehnt.

Soziale Normen sind ungeschriebene, in der Gesellschaft anerkannte, positiv bewertete Verhaltensmuster. Deren Befolgung wird von Mitmenschen positiv, deren Nichtbefolgung negativ sanktioniert. „Angestoßen werden diese Kipppunkte von einer kleinen, aber engagierten Minderheit, der es gelingt, die Einstellung einer Mehrheit zu ändern und damit weitreichende Bewegungen in allen gesellschaftlichen Bereichen anzustoßen. Sobald eine kritische Masse überzeugt ist, braucht es nur noch einen kleinen, unscheinbaren Auslöser, um eine gewaltige Dynamik in Gang zu setzen, die schlussendlich alle Gesellschaftsbereiche beeinflusst.“ **

Wie viele Menschen braucht es?

Wenn mindestens 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung inhaltlich von einer Sache überzeugt sind und sie unterstützen, Rückhalt bieten und wenn sich etwas 3 bis 3,5 Prozent aktiv dafür engagieren, dann ist spürbares politisches Handeln innerhalb kurzer Zeit möglich. „Diese 25% würden daraufhin die träge Mehrheit mitreißen. Etabliertes Verhalten und soziale Konventionen könnten sich ganz schlagartig ändern. Es brodelt doch überall. Vielleicht stehen die 25% kurz bevor?“ ***

Warum gerade jetzt?

Für die Lösung der Klimakrise und für die Klimawende haben wir bereits das nötige Wissen und die dafür geeigneten Technologien. Es fehlt aber die Überzeugung, dass dieser Wandel nötig ist und uns zu einem besseren Leben verhilft. Angesichts der Untätigkeit der Regierungen, Verantwortlichen und Global Players ist es anscheinend unsere einzige Chance, zu wirksamen Klimaschutzmaßnahmen zu gelangen. Um Verhaltensänderungen in einer Gruppe durchzusetzen, braucht es normalerweise längere Zeit.

Bei der Klimakrise könnte es rascher gehen, da wir wissen beziehungsweise da wir spüren und ahnen, dass es so nicht weiter gehen kann. Wir fühlen den bevorstehenden Umbruch, die Unruhe, die Ungerechtigkeit. Wir sehen, wer von einem „Weiter so wie bisher“ und der Abhängigkeit von fossilen Energien profitiert und empfinden es mehr und mehr als unverschämt. Es müssen daher genug Menschen davon überzeugt werden, dass eine bessere, fairere Welt mit höherer Lebensqualität möglich ist.

Denn je mehr Menschen überzeugt sind, umso intensiver und schneller wird an der Realisierung dieser Überzeugung mitgewirkt. Es entsteht eine Dynamik, ein Schneeballeffekt, der uns in ein neues Gleichgewicht mit neuen sozialen Normen führt. Diese positiven Ansteckungsketten führen zu einer schnellen Verbreitung von neuen Verhaltensweisen, veränderten sozialen Normen und Umstrukturierungen von Organisationen und Institutionen sowie von innovativen Technologien.

From Greta’s speech on ‚Hope‘ 2020:

„… there are signs of change, of awakening. Just take the Me Too movement, Black Lives Matter or the school strike movement for instance. It’s all interconnected. We have passed a social tipping point, we can no longer look away from what our society has been ignoring for so long. Whether it is sustainability, equality or justice. From a sustainability point of view all political and economic systems have failed. But humanity has not yet failed.“

„Kleine Gruppen, die sehr motiviert und sehr aktiv sind, können die Gesellschaft verändern.“ – Prof. Dr. Ilona Otta, Wegener Center Graz

Was können wir daher tun, um diese Überzeugung anzustoßen?

  • „Positive Ansteckungsketten:“ Wir können zum Beispiel jeden Tag mit mindestens einer Person darüber sprechen. Egal, ob in der Arbeit, in der Familie, in der Schule, auf der Uni, beim Einkaufen, im Bus oder beim Hundespaziergang im Wald. Auf Social Media entsprechende Beiträge liken, kommentieren und teilen. Zeigen, dass wir bereits viele sind. Dann sind auch andere eher bereit, dazuzustoßen. Unterstützt (zumindest verbal) die Aktionen derjenigen, die sich bereits jetzt in einer Sisyphusarbeit – oft auch gegen den Unwillen vieler – für Klimaschutz einsetzen. Engagement ist so wichtig: Engagement für Klimaschutz
  • Unternehmen können – auch wenn gesetzlich noch nicht gefordert – puncto Klimaschutz und Nachhaltigkeit voraus gehen. Sie können dadurch eine Vorreiterrolle einnehmen. Damit wird sowohl auf Politik als auch auf die Konkurrenz Druck ausgeübt. Bald wird nur mehr bei klimafreundlichen Unternehmen eingekauft werden – nehmt euch daher in Acht und verliert nicht den Anschluss!
  • Auch wichtig: Bereits bestehendes Wissen und vorhandene Leuchtturmprojekte (Initiativen – die sich dafür einsetzen) und Lösungen müssen personell und finanziell unterstützt, sichtbar gemacht, geteilt und nachgeahmt werden.
  • Klimawandel muss ein fester Bestandteil in der Grundbildung und überall Thema sein.
  • Emissionen und CO2-Ausstöße müssen transparent ersichtlich und dürfen nicht verborgen sein.
  • CO2-intensive Produkte müssen teurer sein. Auch die Erzeugung von erneuerbarer Energie muss ökonomisch lukrativer sein, als die von fossiler (derzeit ist es umgekehrt). Klimaschädliche Subventionen gehören beendet, stattdessen erneuerbare Energien stark gefördert.
  • Finanzmärkte: Ausstieg aus finanziellen Vermögenswerten, die in Zusammenhang mit fossilen Brennstoffen stehen.

Wenn die Menschen etwas wirklich wollen, dann können sie alles.

Mojib Latif, Klimaforscher und Meereskundler, über seine Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderung

Link zu einem Vortrag von Dr. Ilona M. Otto: https://tube.tugraz.at/paella/ui/watch.html?id=1a7104f3-90ec-4998-b151-9a7ff0402f05

Sechs STE (Social Tipping Elements) nach Dr. Otto: Finanzmärkte, Information-Feedbacks, menschliches Zusammenleben, Energieproduktion und -speicherung, Bildungssystem, Normen und Werte

Die gesellschaftlichen Bereiche, die kippen könnten (“Social Tipping Elements”), sind farblich eingekreist und von STE1 bis STE6 nummeriert. Die jeweiligen Maßnahmen (“Social Tipping Interventions”) sind von STI1.1 bis STI 6.1 nummeriert. Soziale Kipppunkte können sich direkt und indirekt gegenseitig beeinflussen. | Quelle: https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1900577117  

Bestimmte Maßnahmen – sogenannte “Social Tipping Interventions” – könnten ein Kippen dieser sechs Bereiche auslösen. Im Bildungssystem und bei unseren gesellschaftlichen Werten könnte ein solcher Wandel bis zu 30 Jahre und länger dauern. Der Finanzmarkt könnte allerdings durch Desinvestitionen aus fossilen Brennstoffen innerhalb eines Jahres kippen.

Noch gibt es im deutschsprachigen Raum wenig Berichterstattung darüber, warum bislang so wenige Banken, Rentenversicherer, Universitäten, Gemeinden oder Investmentgesellschaften wie Blackrock ihr Geld aus Kohle, Öl und Gas herausziehen – und stattdessen in Klimalösungen investieren.

Ilona Otto: “Meine individuellen Ansichten können sich relativ schnell ändern. Aber es dauert länger, bis sich Normen in der Mehrheit unserer Gesellschaft verändern und bis sich dadurch auch Gesetze ändern. Vor 100 Jahren war Kinderarbeit noch akzeptabel. Heute ist das verboten und nicht mehr vorzustellen. Das ist zur legalen Norm geworden.”

Quellen:

  • https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/positive-tipping-points-zur-klimawende/
  • *https://www.lmu.de/de/newsroom/veranstaltungskalender/veranstaltung/soziale-kipp-interventionen-und-wissenschaftskommunikation.html – Einladung der Ludwig-Maximilians-Universität München
  • **https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/soziale-kipppunkte-im-kampf-gegen-den-klimawandel/
  • https://www.heise.de/newsticker/meldung/Studie-Soziale-Kipp-Punkte-koennten-den-Klimawandel-eindaemmen-4642335.html
  • https://www.n-tv.de/wissen/Bleibt-uns-noch-genug-Zeit-die-Erde-zu-retten-article23354370.html
  • https://www.gnz.de/region/gelnhausen/der-soziale-kipppunkt-ist-erreichbar-HA1552955
  • https://www.iass-potsdam.de/de/blog/2021/11/symptom-einer-kipppunktdynamik
  • ***https://lampert-nachhaltigkeit.com/warum-wir-hoffnung-haben/
  • https://detektor.fm/wissen/forschungsquartett-soziale-kipppunkte
  • https://science.orf.at/stories/3207465/
  • https://reset.org/soziale-kippunkte-koennten-das-globale-klima-stabilisieren-10162020/
  • https://www.bbc.com/future/article/20190513-it-only-takes-35-of-people-to-change-the-world
  • https://www.ndr.de/kultur/Soziale-Kipppunkte-in-der-Klimakrise,kippunkte100.html

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