Nachhaltiges Leben – ein Tummelplatz der kognitiven Dissonanzen?
Oder: Warum wir uns selbst austricksen, ohne es oft überhaupt zu merken!
Die Klimakrise ist da. Und es ist nur der Anfang, es geht sogar schneller als vorausgesagt. Rundherum brennt es, die Hitze im Sommer ist unerträglich und führt zu vielen gesundheitlichen Belastungen. Flüsse und Seen trocknen auch bei uns aus, von den Gletschern rinnt es in Strömen, man kann sich vorstellen, was dies für unseren Wasservorrat und die Lebensmittelsicherheit bedeutet und DENNOCH fliegen viele in den Urlaub. Obwohl sie wissen, was da gerade passiert und dass der Flug nach Mallorca für eine Person schon so viel CO2 verbraucht, wie uns für das ganze Jahr zustehen würde. Sollten wir nicht alle möglichst dafür sorgen, Erdöl und Erdgas im Boden zu lassen? Sollten wir uns angesichts der enormen Bedrohung nicht alle sofort in einen freiwilligen Lockdown begeben und uns und unsere Kinder und Enkelkinder damit retten? Und was bedeutet in diesem Zusammenhang die kognitive Dissonanz?
Als Klimaschutzaktivist*in und annähernd nachhaltig lebender Mensch ist man immer wieder mit der Frage konfrontiert, warum einerseits trotz aller vorliegender Fakten die Klimakrise weiter geleugnet oder verkleinert wird und andererseits, das eigene nachhaltige und klimaschützende Verhalten von diesen Personen schlecht gemacht wird. Diejenigen, die sich für Klimaschutz einsetzen werden angegriffen. Die Klimakrise hat inzwischen nicht nur eine politische, sondern auch eine psychologische Komponente.
Warum ist es so schwierig, Menschen dazu zu bringen, Ergebnisse der Klimaforschung zu akzeptieren UND entsprechend zu handeln? Die Theorie der „kognitiven Dissonanz“ liefert dazu einen wichtigen Erklärungsansatz. Der Begriff bedeutet so viel wie „gedankliche Konflikte“, stammt aus der Sozialpsychologie und wurde Mitte des 20. Jahrhunderts vom amerikanischen Psychologen Leon Festinger definiert. Er schleuste sich quasi undercover im Jahr 1954 in eine Sekte ein, um dabei herauszufinden, wie die Menschen mit dem Widerspruch zwischen Glauben (das bevorstehende Ende der Welt wurde prophezeit) und Realität umgingen.
Kognitive Dissonanz*:
(*kognitiv = das Denken betreffend; Kognition = Information, Einstellung, Werthaltung; Dissonanz = Uneinigkeit)
Wenn eine Person mit Informationen konfrontiert wird, die ihren eigenen Überzeugungen oder ihrem eigenen Tun widersprechen, führt dieser Zustand zu psychischen Beschwerden. Das eigene Verhalten und das Wissen passen nicht (mehr) zueinander. Die Person befindet sich in einem unangenehmen Ungleichgewicht, in einer psychologischen Denkfalle oder einer sogenannten „Zwickmühle“. Das Gehirn kommt mit diesen Spannungszuständen gar nicht gut zurecht, sie fühlen sich nicht nur schlecht an, sie machen uns auf Dauer auch krank und unglücklich. So versucht das Gehirn mit aller Kraft und mit verschiedenen Strategien, dieses Ungleichgewicht zu mindern und das Dilemma auf eigene Faust zu lösen.
Ein bekanntes Beispiel ist das des Rauchens: Dass Rauchen ungesund ist, ist allseits bekannt, aber warum man damit nicht aufhört? „Mein Großonkel ist schließlich auch trotz Rauchens 94 geworden … ich rauche ohnehin nur zehn am Tag … es ist ohnehin mein einziges Laster, …“ – alles schon gehört, oder? In Sachen Klimakrise gehen die kognitiven Dissonanzen allerdings weiter, betrifft doch unser Handeln oder Nichthandeln nicht nur unsere Lunge, sondern den ganzen Planeten mit allen Lebewesen.
Kognitive Dissonanz und Klimaschutz
Gerade in der Nachhaltigkeit und dem Klimaschutz kommt es zu besonders vielen kognitiven Dissonanzen. Denn für den Kampf gegen Klimakrise, Artensterben, schlechte Luft … ist sehr viel, sehr rasche und auch sehr persönliche Veränderung von Gewohnheiten nötig. Strukturelle Gegebenheiten machen es uns auch nicht leichter, die ökologisch verträglichere Alternative zu wählen. Dazu noch mehr weiter unten. Wir kommen daher ständig und immer öfter in innere Konflikte, weil wir nicht so nachhaltig leben, wie wir eigentlich sollten.
Ein paar Beispiele aus dem Umwelt-Alltag:
- Viele von uns wissen nun ja mittlerweile, dass der CO2-Ausstoß schlecht fürs Klima ist, sehr schlecht sogar. Aber deshalb auf Flugreisen verzichten? Es ist ja nur einmal im Jahr, dafür hat man ja ein E-Auto oder isst vegan. Die Beispiele sind beliebig ersetzbar. Was habe ich vor kurzem gelesen: „Ich darf fliegen, weil wir keine Kinder in die Welt gesetzt haben.“
- Faire Mode kaufen? Ist zwar bekanntlich besser, aber auch viel teurer!
- Ich trenne meinen Müll und fahre viel mit dem Fahrrad, dann wird es doch nicht so schlimm sein, ein paar neue Sachen über das Internet zu bestellen!
- Kognitive Dissonanzen gibt es allerdings auch auf größerer Ebene: Industrielle Verursacher des Klimawandels begegnen den vorliegenden Fakten großteils sehr aggressiv und entwürdigend.
- uvm
Schlechte Wahl: Auflösen der kognitiven Dissonanzen
Unser Gehirn kommt leider nicht immer zur objektiv besten Lösung. Schlechte, oft Jahrzehnte alte Gewohnheiten werden nämlich nur ungern aufgegeben. Um den inneren Frieden wieder herzustellen, wird versucht, das soziale Umfeld zu modifizieren, um es mit den eigenen Überzeugungen in Einklang zu bringen. Je stärker die Dissonanz, desto wichtiger, lauter und aggressiver werden oft die Anstrengungen, sie zu vermindern. Da fällt uns zB leichter:
- Das Ignorieren der Tatsachen: Wir schalten zB die Info-Quellen aus, denken nicht weiter.
- Die Verdrängung: Wir ziehen uns in die eigene Bubble zurück, schieben Entscheidungen nach hinten.
- Ablenkung: Zum Beispiel durch Sport, Entspannung, Alkohol, Arbeit oder auch Gesprächswechsel.
- Kleinreden des eigenen Verhaltens: „Ob ICH jetzt eine Fernreise mache oder nicht, macht doch wirklich keinen Unterschied.“
- Vergleiche – Dritte werden verantwortlich gemacht: „So schlimm ist es doch gar nicht … die USA und China stehen ja viel schlechter da, sollen doch die wirklich Bösen zuerst … die arme Friseurin wird wohl noch nach Mallorca in den wohlverdienten Urlaub fliegen dürfen – verzichten müssen da eher die anderen …“
- Relativierung der wissenschaftlichen Erkenntnisse: Man sucht gezielt nach wissenschaftlichen Informationen, die das dissonante Verhalten rechtfertigen. „Hitzeperioden gibt es immer wieder, Klimawandel hat es immer schon gegeben, …“
- Entwertung der Quelle bis zur Aggression gegen die Quelle:
- „Die Wissenschaftler sind doch nur weltferne Gutmenschen!“ (Warum Gutmensch wie ein Schimpfwort gebraucht wird, bleibt mir immer noch ein Rätsel – seit wann ist es nicht mehr erwünscht, ein guter Mensch zu sein?)
- „Die FFF-Aktivisten haben ja auch alle Smartphones, werden nach der Demo von ihren Eltern im SUV abgeholt … und haben somit kein Recht, für ihre Zukunft zu demonstrieren.“ (Warum stört man sich an Menschen, die sich für das Überleben ihrer und künftiger Generationen einsetzen?)
- „Nachhaltig? Was ist denn das? Heutzutage ist ja schon alles nachhaltig und Augenauswischerei! Da horche ich doch gar nicht mehr hin.“
- „Das führt doch zu einer grünen Öko-Diktatur!“
- Auch hier gibt es viele verschiedene Beispiele – vor allem in den Kommentarspalten auf Social Media zu finden, immer wieder die gleiche Leier …
- Entlastung des eigenen Verhaltens, Rechtfertigung: „Ich fahre ein E-Auto, dann darf ich doch nach New York fliegen.“ (Dazu auch interessant => den Rebound-Effekt)
- Leugnung: „Klimawandel gibt es nicht, ist nur eine Erfindung.“
- Abwertung der Alternative: „Das alte Handy ist nur mehr sehr langsam, daher brauche ich ein neues“ … „Mit dem Zug brauche ich viel länger, das wäre sich nicht ausgegangen“ …
- Trotz (Reaktanz): „Ein Tempolimit lass ich mir sicher nicht gefallen!“ … „Verbote haben noch nie funktioniert!“
Die optimale Wahl: Verhaltensänderung
Der logischste, beste aber auch schwerste Weg der Dissonanzreduktion wäre es, sein Verhalten entsprechend zu ändern. Doch nicht alle besitzen diese Disziplin. Auch wird es uns sehr schwer gemacht. Warum?
Soziale Normen
Punkto umweltfreundliches Verhalten werden wir mit zunehmendem Wissen über den Klimawandel mit unglaublich vielen kognitiven Dissonanzen konfrontiert. Politik und Wirtschaft sind nämlich die letzten Jahre auch den Weg gegangen, uns Menschen und Konsument*innen die Verantwortung zuzuschieben. Leicht zugänglich und günstig ist die ökologisch schlechte, am besten für Klima und Umwelt wäre allerdings die weniger einfache oder die teurere Alternative. So ist Fliegen meistens viel billiger, als mit dem Zug zu fahren, Bio-Produkte viel teurer als konventionelle, der Öffi-Verkehr nicht ausgebaut, Radfahren in der Stadt oft viel zu gefährlich, usw. Es müsste somit nachhaltiges Handeln strukturell gefördert und überhaupt möglich gemacht werden. Denn wenn sich die sozialen Normen ändern würden, sprich wenn die Politik umweltfreundliches Verhalten fördert und entsprechende Gesetze erlässt, fällt es auch leichter, das eigene Verhalten zu ändern. Auch verschiedene positive Vorbilder seien wichtig. Menschen definieren sich nämlich über soziale Gruppen und wollen sich zugehörig fühlen.
Wer ist am ehesten gefährdet, einer kognitiven Dissonanz ausgeliefert zu sein?
Es kann einerseits an einem Mangel an Information und an wissenschaftlichen Kenntnissen liegen. Noch viel mehr ist allerdings die Zugehörigkeit zu einer Gruppe ausschlaggebend. Ist man daher von vielen „Fliegern“ umgeben, die vermitteln, dass es ihnen egal ist, wird man auch selbst zu diesem Muster greifen.
Wie kommen wir am besten aus dieser Falle heraus?
- Je besser man sich und seine Gefühle kennt, umso eher tappt man nicht in Denkfallen: „Wie reagiere ich auf gewisse innere Konflikte?“ „Wo taucht ein schlechtes Gewissen auf und welche Ausreden habe ich automatisch parat, um die Problematik abzuschwächen?“
- Daher ist auch das theoretische Wissen über das Vorliegen dieser Denkfallen sehr hilfreich. Denn je stärker wir uns dieser bewusst sind, desto besser können wir sie hinterfragen, sind ihnen nicht mehr ganz so ausgeliefert und können unser Verhalten nachhaltig ändern.
- Je mehr Menschen in meinem direkten Umfeld sind, die bereits mutig und selbstwirksam neue Wege gehen, umso leichter fällt es auch mir selbst, mich umweltgerecht zu verhalten. „In Gruppen finden die Menschen Halt und die Macht, etwas zu verändern,“ so Professor Myriam Bechtoldt von den Psychologists for Future (Psy4F).
- Dann kann auch ich wieder Inspiration und Vorbild für mein Umfeld sein. Ganz wichtig daher an dieser Stelle wieder die Info, über bereits gesetzte Klimamaßnahmen zu reden bzw der Austausch über den Klimawandel überhaupt. => Wir müssen über die Klimakrise reden!
- Selbstwirksamkeit ist ein unglaublich gutes Gefühl: „Mein Handeln wirkt!“
- Positive Visionen: Statt Einschränkung und Verzicht könnten wir uns auf die positiven Veränderungen konzentrieren, wie zB saubere Luft und mehr Platz durch weniger PKWs, weniger Unfälle oder mehr Arbeitsplätze im erneuerbaren Energiesektor.
- Wir müssen nicht perfekt sein! Wenn du derzeit nicht die Kraft oder das Geld oder die Zeit hast, eine Situation zu ändern, dann akzeptiere es. Zumindest hast du die Muster deiner kognitiven Dissonanz durchschaut. Das ist der erste Schritt. Und: Noch viel wirkungsvoller als unsere individuellen Schritte ist jetzt Engagement für Klimaschutz und für organisierten politischen Widerstand. Denn uns bleibt nicht mehr viel Zeit, um das Ruder herumzureißen bzw die Klimakrise nicht zu stark zu befeuern.
Quellen:
- https://www.goethe.de/prj/mis/de/mit/kww.html
- https://www.wwf-jugend.de/blogs/12275/8620/kognitive-dissonanz-rebound-effekt-auswirkungen-aufs-klima
- https://www.wissenmachtklima.de/kognitive-dissonanz/
- https://www.bfi-ooe.at/de/blog/warum-wir-uns-selbst-austricksen-ohne-es-zu-merken-kognitive-dissonanz.html
- Psychologists4future
- https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/klimawandel-abschied-trauer-100.html?
- https://utopia.de/ratgeber/kognitive-dissonanz-das-hat-sie-mit-nachhaltigkeit-zu-tun/
- https://www.volksverpetzer.de/klima/klimakrise-dissonanz/
- https://www.goethe.de/ins/es/de/kul/sup/nac/bea/21900892.html
- https://klimakommunikation.klimafakten.de/vor-denken/kapitel-2-kenne-dich-selbst-und-deine-schwaechen/
- https://www.geo.de/wissen/gesundheit/18160-rtkl-kognitive-dissonanz-warum-wir-uns-so-leicht-selbst-betruegen
Weitere interessante Links zum Thema der Klima-Psychologie und -Kommunikation:
- Die Psychologie hinter der Nachhaltigkeit
- Der Rebound-Effekt
- Whataboutism
- Der Bystander-Effekt
- Wir müssen über die Klimakrise reden
- Kognitive Dissonanz
- False balancing – Falsche Ausgewogenheit
- Nudging für Klima & Umwelt
- Pluralistische Ignoranz
- Engagement für Klimaschutz
- Was ist das Shifting baseline syndrom?
- Der Diderot-Effekt
- Solastalgie – Was ist das?
- Sozialer Kipppunkt
Dieser Beitrag erschien erstmals am 22. Oktober 2022 [bea] und wurde zuletzt am 18.7.2023 aktualisiert.
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Wieder ein toller Artikel! Ich wünsche ihm ganz viele LeserInnen!!
Liebe Ursula,
es war mir gerade heute ein großes Bedürfnis, diesen bereits vor Monaten begonnenen Artikel fertig zu stellen. Mir nützt die Erkenntnis darüber und ich hoffe, dies gelingt auch anderen.
Liebe Grüße,
Beatrix
Nun ich sehe die kognitive Dissonanz aber auch sehr stark bei den Klimaaktivisten.
– Sie machen sich sorgen um das Klima obwohl wir alle wissen, dass die globale Gesellschaft noch weit schlimmeres Schindluder treibt, das noch weit schneller in die Katastrophe führt. Davon will aber irgendwie keiner reden.
Stichworte: Polymere, fluorierte Kohlenwasserstoffe oder gar fluorirte Polymere, sonstige Hochgiftige Chemikalien welche auch wir hier in AT gedankenlos und massig in die Umwelt einbringen.
– Sie verteufeln das CO2 obwohl jedem Kind nach der Grundschule klar sein muß, das Problem ist nicht der CO2 Ausstoß, das Problem ist die Massenvernichtung von Lebewesen die dieses CO2 verwerten und binden.
– Sie schreiben alles dem CO2 und anderen Treibhausgasen zu obwohl sie gelernt haben, braune Äcker absorbieren mehr Hitzestrahlung als grüne Äcker.
– Sie propagieren so etwas wie Elektroautos, obwohl sie bei mündiger Information wisen sollten, dass die Herstellung dieser noch weit katastrophalere Konsequenzen hat als Herstellung und Betrieb von Verbrennern.
LG
PS: Kaufe so regionale und nachhaltig wie möglich, Auto steht meistens in der Garage, keine Urlaubsflüge ja nicht einmal innereuropäische Urlaubsfahrten und vor Allem, jede Plastikanschaffung und sei sie noch so gering wird 10 mal überdacht.
Lieber Ralph,
schick uns doch bitte ein paar Quellen zu deinen interessanten Ausführungen! Damit wir uns fortbilden können!
Lieben Gruß
Bea