Und warum ist diese kollektive Wahrnehmungsverschiebung so gefährlich?
Globale Veränderungen, die langsam stattfinden, bleiben von den meisten unbemerkt. Jede Generation hat die Tendenz, davon auszugehen, dass ihre gewohnte Umgebung die Norm ist. Diese Wahrnehmung ist aber mit ein Grund, warum wir so zögern, umweltfreundliche Maßnahmen zu setzen. Wir sind unfähig anzuerkennen, wie intakte, gesunde Ökosysteme eigentlich aussehen. Jegliche Besorgnis über den Zustand unserer Natur wird sofort abgetan. Das Shifting baseline syndrom führt zu generationenübergreifenden Veränderungen in der Wahrnehmung der Welt. Wir vergleichen Umweltzustände nicht mit historischen Basislinien, sondern mit unserer eigenen Ausgangssituation, die meist im Jugendalter geprägt wird.
Isn’t it funny how day by day nothing changes, but when you look back everything is different?
C.S. Lewis
Der Begriff des shifting baseline syndroms, der kollektiven Wahrnehmungsverschiebung, stammt aus der Umweltforschung. Geprägt hat ihn der Meeresbiologe Daniel Pauly im Jahr 1995.
Werden wir uns dieses Phänomens allerdings bewusst, können wir dagegen steuern und auch andere informieren. Es braucht nämlich nicht nur eine Hand voll Aktivist*innen, sondern es braucht viele, die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, nicht nur „im Jetzt“ leben, sondern bei ihrem Tun auch die Auswirkungen auf andere Menschen in anderen Regionen, auf zukünftige Generationen und auf alle Lebewesen berücksichtigen.
Das Phänomen des „Shifting Baseline Syndrom“ ergibt sich daher aus dem relativ kurzen Zeitfenster, das ein einzelnes Menschenleben bietet: Wir nehmen den aktuellen Zustand der natürlichen Welt als normal wahr. Was normal ist, wird stetig neu definiert.
Each generation defines the normal by what it experiences.
David Attenborough
Die Gefahr
Was gestern undenkbar war, gilt heute als normal. Wir sind schnell bereit, uns an alles zu gewöhnen. Bei Kleinigkeiten, die keinen Schaden anrichten, ist es ja auch egal. Beziehungsweise ist es ja sogar eine positive menschliche Gabe, sich mit neuen Entwicklungen zu arrangieren. Aber wir machen selbst katastrophale Entwicklungen akzeptabel. Das Shifting Baseline Syndrom erhöht die Toleranz der Gesellschaft für Umweltzerstörung, Artensterben und für den Verlust natürlicher Lebensräume und lässt uns nicht ins Handeln kommen. Unsere Gefühle gegenüber dem Schützenswerten der Welt verändern sich durch diese „Generationen-Amnesie“.
Beispiele für das Shifting Baseline Syndrom
Schmetterlingspopulation
Eine Wiese, über der zehn Schmetterlinge flattern, wird von den meisten Menschen heutzutage schon als naturnah angesehen. Aus Texten aus dem 19. Jahrhundert wissen wir jedoch, dass bei Wanderungen durch Wiesen bei jedem einzelnen Schritt Schmetterlinge aufgescheucht wurden.
Fischpopulation
Ältere Fischer erinnern sich an mehr bereits ausgestorbene Fischarten, als jüngere. Jüngere Fischer vergleichen allerdings den jetzigen Zustand mit der Population aus ihrer ersten bewussten Erinnerung.
Die Autogröße
Automodelle wurden in den letzten Jahren immer größer. Im direkten Vergleich fällt uns das vielleicht noch auf, aber immer mehr nehmen wir diese Größe als das neue Normal an.
Die autogerechte Stadt
Wir haben uns bereits seit mehreren Generationen an die vielen Autos in der Stadt gewöhnt, hinterfragen sie nicht mehr. In letzter Zeit zunehmender Radfahrverkehr wird allerdings vor allem von der älteren Generation als kritisch betrachtet, für die jüngeren Generationen ist beides wohl ganz normal.
Das Windschutzscheibenphänomen
Vor einigen Jahrzehnten war es noch normal, dass bei einer längeren Autofahrt die Scheibe vor lauter toten Insekten genauer geputzt werden musste. Und heute? Für ältere Generationen zwar – wenn man bewusst daran denkt – noch komisch, aber jüngere Menschen werden es nicht mehr merkwürdig finden.
Temperaturen, Frosttage, Hitzetage
„Es war immer schon so heiß!“ Hier zeigt eine Grafik von @earthorg den Unterschied bei den Frosttagen (bei denen die Lufttemperatur unter 0 Grad fällt) und bei den Hitzetagen (Temperaturen von 30 Grad und mehr), den die verschiedenen Generationen in Deutschland von 1946 bis heute erlebt haben.
Waldflächen
Seit der Ankunft der europäischen Siedler in den USA sind 90 % der Urwälder, die einst einen Großteil der unteren 48 Bundesstaaten bedeckten, verschwunden.
Überhandnehmender Konsum
Innerhalb kürzester Zeit wurde es normal, viele Produkte zu kaufen und selbst wenn noch funktionstüchtig, wieder weg zu schmeißen.
Shifting Baselines gibt es aber nicht nur bei Umweltveränderungen, sondern auch in anderen Bereichen, zB beim Rechtspopulismus. Wir müssen ernsthaft aufpassen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Vor allem, wenn es bald keine Holocaust-Überlebenden gibt, die von ihren Erlebnissen erzählen können. Ein Beweis, wie wichtig auch der Geschichtsunterricht ist.
Steuermoral von Milliardenkonzerne? Selbstverständlicher Gebrauch von Nazi-Ausdrücken wie „Lügenpresse“? – Wir ermüden und härten ab. Ist halt so, was soll man machen? „Zur shifting baseline gehört eben auch, das Schlimmste zu erwarten und beim Eintritt des Zweitschlimmsten erleichtert zu sein“*.
Es gibt wahrscheinlich noch viel mehr Beispiele. Welche fallen dir noch ein?
Gründe für das Shifting Baseline Syndrom:
- Mangel an verfügbaren Daten und Berichten, wie natürliche Tier- und Pflanzenbestände ausgesehen haben, bevor der Mensch extrem eingegriffen hat (Beginn der Industrialisierung vor allem im mitteleuropäischen Raum).
- Das Wissen über unsere Natur nimmt immer mehr ab. Dadurch nehmen wir Veränderungen nicht mehr wahr. Wissen wird auch generationenübergreifend nicht mehr weiter gegeben, da man meint, es ohnehin ständig online abrufen zu können.
- Mangel an Interaktion mit der Natur – dafür gibt es wieder eine Vielzahl von Gründen. Unter anderem natürlich der Verlust von Naturräumen, das vermehrte Wohnen in Städten, aber auch die vielen To-Dos, das Gefangensein in der Stressspirale, die dafür sorgt, keine Zeit mehr für anderes zu haben.
Was kann man dagegen tun?
- Bessere Datensammlung, um aktuelle und künftige Generationen über den Zustand der Umwelt auf dem Laufenden zu halten. Die Digitalisierung kann uns hierbei helfen.
- Positive Naturerfahrungen ermöglichen und verstärken, Zugang zur Natur vor allem in Städten erleichtern. Dadurch entwickeln sich positive Erfahrungen im Zusammenhang mit Naturschutz.
- Beteiligung ermöglichen!
- Umweltwissen vermitteln, schulisch aber auch außerschulisch, im Großen aber auch im Kleinen. Auch historische Daten liefern, wie die Artenvielfalt vor der Kolonialisierung und Industrialisierung aussah?
- Sehr wichtig: Wiederherstellung natürlicher Lebensräume
No one will protect what they don’t care about; and no one will care about what they never experienced.
David Attenborough
Gibt es auch positive Shifting Baselines?
Ja, zum Beispiel Rauchen in geschlossenen Räumen war noch in den 70er, 80er, 90er Jahren völlig normal. Heute können sich das selbst Raucher nicht mehr vorstellen. Fallen dir dazu weitere positive Beispiele ein? und hofft ihr zum Beispiel auch, dass autofreie Städte in Kürze normal werden?
Quellen:
- https://vernunftpraxis.de/was-ist-shifting-baseline/
- https://oceanblog.de/2021/12/wie-sich-unser-blick-auf-die-natur-veraendert-das-shifting-baseline-syndrome/
- Daniel Pauly (1995) Anecdotes and the shifting baseline syndrome of fisheries. Trends in Ecology and Evolution, 10:430
- Instagram: @lauramitulla, 2.8.2021: https://www.instagram.com/p/CSD39W2sUd1/
- Buch: Peter Carstens – Das Klimaparadox – Warum wir lieber im Chaos versinken, als das Klima zu schützen
- https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1559885/
- https://www.zeit.de/zeit-wissen/2017/03/moral-werte-veraenderung-shifting-baseline-rechtspopulismus
- *https://www.stern.de/panorama/meike-winnemuth/shifting-baselines–wie-wir-unsere-definitionen-anpassen-8642270.html
- https://udokoepke.de/glossar/shifting-baselines/
Dieser Beitrag erschien erstmals am 27. Dezember 2022 und wurde zuletzt am 15.7.2023 aktualisiert.
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